2002 – Fischteiche

5. Oktober 2002, es regnet Bindfäden – authentisches Paderborner Wetter. Ich bin aus München angereist, um meine alten Mitschüler wiederzusehen. Erster Treffpunkt ist die Hausmeisterloge am Eingang der Lehranstalt.
Immer, wenn der Geschichtslehrer den fallenden Nikotinpegel spürte, beendete er die Unterrichtsstunde vorzeitig. Schnell eine Reval ohne Filter angesteckt und dreimal tief inhaliert – schon kam der Hausmeister aus seiner Loge gestürzt und hielt dem Pädagogen den Ascher unter die Nase. Er war damals der einzige an der Schule mit der Lizenz zum Rauchen, was uns in pubertierenden Jahren enorm imponierte.

Im Lehrerzimmer werden wir von Klaus Zacharias in Empfang genommen. Ungefähr 50 von 120 Abiturienten des Jahrgangs 1982 sind angereist und fläzen sich nun an den ries igen Tisch. Herr Zacharias erzählt, dass sich einiges geändert hat. Direktor der Schule ist nun eine Frau. Griechisch wird noch angeboten, aber kaum noch wahrgenommen. Wer es in diesem Moment rumpeln hört – das sind die auf Ost- und Westfriedhof residierenden Altphilologen, die in ihren Gräbern rotieren.
Es gab mal einen Physiklehrer am Theo, der für seine Experimente unbedingt einen Kühlschrank haben musste. Dass die dort gelagerten Spirituosen allerdings nicht allein wissenschaftlichen Zwecken dienten, wurde bei mancher Konferenz im Lehrerzimmer offenbar. Dort verschwand der Kopf des Kollegen immer wieder für kurze Momente unter der Tischplatte, wo er sich mittels eines Flachmanns die Sitzung verschönte.

Viele unserer damaligen Lehrer sind natürlich nicht mehr da, wie Herr Zacharias erläutert. Einige erreichten die Pensionsgrenze regulär. Die Mehrheit, so scheint es, wurde frühzeitig in den Ruhestand verabschiedet. Bei manchem meiner Mitschüler leichtes Unbehagen – ob wir dafür verantwortlich sind, dass der ein oder andere berufsunfähig wurde? Mich tröstet die Vorstellung, dass sie jetzt alle mit ihren Wohnmobilen in der Toskana eine riesige Rallye veranstalten.
Biologieraum, Physikraum, Chemieraum. Hier wirkte ein Team aus unverwüstlichen Naturfreunden, grenzdebilen Experimentieronkeln und begabten Sadisten. Mir kommt der Geruch von Schwefel in den Sinn, ausgestopfte Tiere und Erlenmaierkolben. Der Biologielehrer trug meistens Polohemden mit einem aufgestickten Monogramm. Nur der Doktortitel fehlte.

Höhepunkt der Führung durch die alte Schule war für mich der Erdkunde-Fachraum. Nicht nur, dass man den schönsten Blick auf Paderborn hat – die alten Karten mit Sowjetunion, DDR und Jugoslawien demonstrieren, dass man nicht jeden Schnickschnack mitmachen muss, um jungen Menschen wahres Wissen zu vermitteln.
Als der Physiklehrer seinen Schülern die Fallgesetze erklären wollte, hielt er es für eine gute Idee, diese mittels eines Steins und einer Stoppuhr zu demonstrieren. Die ganze Klasse stieg in den Turm und wartete gespannt auf das Experiment. Der Lehrer hielt beide Hände aus dem Fenster, ließ drückte auf den Stein und ließ die Stoppuhr in die Tiefe fallen.

Der Abend klingt im Restaurant „An den Fischteichen“ aus. Die Lokalität, die früher den Charme einer Aussegnungshalle versprühte, ist mittlerweile auf rustikal getrimmt worden. Wir sitzen an großen, runden Tischen und erzählen unser Leben. Mein Tischnachbar, nach wie vor spanischer Staatsbürger und wohnhaft in Brüssel, bestellt sich aus alter Heimatverbundenheit Dicke Bohnen, fettige Wurst und Bauchfleisch. Er isst tatsächlich auf.